Jiří Peca (* 1952), 1999, portrait of Winston Churchill on the occasion of the unveiling of the statue in Prague Žižkov

Die Schweiz, Churchill, Bowring, Toblerones und die Europäische Union

Britische Aristokraten waren die ersten Bergsteiger und Wintersportler in der Schweiz, unter anderem wegen einer Wette mit dem Gründer des Kulm Hotels in St. Moritz. Die Begeisterung war so gross, dass der erste Alpenverein der Welt 1857 in London gegründet wurde, dem 1863 der Schweizer Alpen Club (SAC)/Club alpine suisse (CAS) folgte.

Churchill und die Schweiz

Der grösste Brite aller Zeiten und Retter der europäischen Zivilisation („1940 hat Churchill Europa gerettet“, schrieb Willy Bretscher, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung während des Zweiten Weltkriegs 1971) war einer von ihnen.

Sir Winston Leonard Spencer Churchill (1874-1965) bestieg den Monte Rosa und in der Folge mehrere andere Berge. Er hielt sich in jungen Jahren mehrmals in der Schweiz auf (1893, 1894, 1904, 1906, 1910). Während dieser (längeren) Aufenthalte lernte er das Land kennen und schätzen, wie auch andere Landsleute vor und nach ihm.

Sir John Bowring (1792-1872). Devonshire Association

Zudem befand er sich in der Schweiz in guter Gesellschaft. Der britische Bankier Sir Ernest Cassel (1852-1921) war jeweils im Sommer 1904, 1906 und 1910 sein Gastgeber in seiner Villa Cassel auf der Riederfurka im Gebiet des Aletschgletschers (Kanton Wallis).

Dort kam er in Kontakt mit britischen und schweizerischen Persönlichkeiten. Zudem kannte Churchill die politische und historische Entwicklung der Schweiz durch Publikationen englischer Autoren.

Die meisten Menschen kennen Churchill von Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg als einen eher behäbigen und Zigarre rauchenden Mittsechziger. In seinen jüngeren Jahren war er jedoch ein aktiver Sportler in verschiedenen Disziplinen, unter anderem Reiten, Polo und Wandern. Er spielte auch Bridge, wenn auch nicht immer mit gutem Erfolg:

Ich kann nicht sagen, wie stark ich es hasse, beim Bridge Geld zu verlieren. Dies ist ein vertracktes Spiel, namentlich wenn man ein schlechter Spieler ist mit einem miesen Blatt in der Hand“.

Seine literarische, journalistische, militärische und politische Karriere, seine Eloquenz und (historische) Belesenheit sind dagegen bekannt, aber auch seine (kurze) Ausbildung und Tätigkeit als Maurer und die Karriere als Maler verdienen Beachtung. Er war stolz auf die steinerne Scheune und Mauer, die er 1928 auf seinem Landgut Chartwell in Kent errichtete.

Winston Churchill, View of Chartwell, 1938. Front cover, The National Trust, Chartwell, 1992

Seine Malerkarriere begann nach einem seiner politischen Tiefpunkte und auf dem Schlachtfeld von Flandern im Jahr 1915. Er wurde von dem Schweizer Charles (Carl) Montag (1880-1956) unterrichtet. Zudem arbeiteten verschiedene Schweizerinnen bis zu seinem Tod 1965 auf Chartwell. Zwischen 1936 und 1938 publizierte er häufig in der Neuen Zürcher Zeitung (und in Medien in anderen Ländern).

Churchill war ein Kind des englischen viktorianischen Establishments und des 19. Jahrhunderts. Anachronistische und oberflächliche Kommentare sagen vor allem etwas über den heutigen Journalismus und die Historiker aus.

Neben seinen vielen (menschlichen) Qualitäten hatte Churchill auch seine Unzulänglichkeiten, Fehler und Fehleinschätzungen. Doch schon Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) und nach dem kommunistischen Putsch in Russland am Ende des Ersten Weltkriegs (1914-1918) hatte er den richtigen politischen und moralischen Kompass.

Er nahm nicht nur den kommunistischen Terror, seine wirtschaftliche Misswirtschaft und seinen kulturellen Nihilismus schon im Jahr 1918 wahr, sondern auch die nationalsozialistische Barbarei in den 1920er und 1930er Jahren. Frühzeitig erkannte er die Gefahr, die auch neutrale Länder, darunter die Schweiz, bedrohte.

Prag Žižkov, Náměstí Winstona Churchilla (Winston Churchill-Platz), 1999, nach einer exakten Kopie der Statue von Ivor Robert-Jones0 auf dem Parliament Square in London. Die Enthüllung der Statue fand am 17. November 1999 statt und kennzeichnet Prag als ein wichtiges europäisches kulturelles, politisches und historisches Zentrum. Sie erinnert auch an die berühmten Worte Churchills, die er am 30. September 1940 in einer Rundfunkansprache an das tschechische und slowakische Volk richtete: „Die Seele der Freiheit ist nicht tot. Sie kann und wird nicht sterben“ (The Soul of Freedom is Deathless. It Cannot and Will not Die).

Der Zweite Weltkrieg

Die berühmte Rede („Let Europe Arise“) am 19. September 1946 in Zürich war der Abschluss seines letzten Besuchs (19. August – 22. September 1946) in der Schweiz und zugleich ein massiver Dank der Schweizer Bevölkerung in Genf, Lausanne, Bern, Zürich oder wo immer er auftrat. Schliesslich hatte Churchill auch die Schweiz gerettet.

Oder mit den Worten von Werner Vogt: „Die Schweiz, namentlich die Schweizer Bevölkerung, hat Winston Churchill im Sommer 1946 viel gegeben. So viel aber, wie sie im Sommer 1940 bekommen hatte, konnte sie gar nicht zurückgeben. Es war auch die schweizerische Freiheit, die Churchill im Sommer 1940 verteidigte“ (Werner Vogt, S. 203).

Abgesehen von den (britischen, polnischen und tschechischen) Piloten der RAF während des „Blitzkriegs“ im Sommer 1940 ermöglichten Churchills Entscheidung und seine Marineerfahrung die Evakuierung des britischen Expeditionsheeres am 26. und 29. Mai. Dies waren vielleicht die entscheidenden drei Tage für den Sieg im Jahr 1945 oder, frei nach Churchill:

„Niemals auf dem Gebiet menschlicher Auseinandersetzungen haben so viele Menschen einer Person so viel zu verdanken“.

Londen, 2012, Trafalgar Studios, Three Days in May, Warren Clarke als Churchill (m), Jeremy Clyde als Lord Halifax (l) en Robert Demeger als Neville Chamberlain (r)

Für die Schweiz bestand bis 1944 eine konkrete Bedrohung durch eine deutsche Invasion, wie sie seit dem 10. Mai 1940 bestand. Vielleicht hat die schnelle Kapitulation (22. Juni 1940) Frankreichs eine Invasion verhindert.

Die Notwendigkeit war nicht mehr gegeben und eine neutrale Schweiz war aus diplomatischen, finanziellen und industriellen Gründen interessanter, und die Nord-Süd-Verbindung konnte auch nicht von den Alliierten bombardiert werden (obwohl es Pläne gab).

Wie dem auch sei, trotz der grossen Angst in der Bevölkerung und des Defätismus einiger Politiker und dank der kämpferischen Haltung der Armee (Réduit), der öffentlichen Meinung und der Medien sowie der Ablehnung eines „Anschlusses“ und des „Irredentismus“ durch die grosse Mehrheit der Bevölkerung fiel die Kosten-Nutzen-Analyse der italienischen und deutschen Diktatoren zugunsten der Einhaltung der Neutralität aus.

Mit dem heutigen Wissen ist es leicht, zu urteilen und vor allem (moralisch) die Schweiz zu verurteilen. Churchill respektierte die Neutralität des Landes, auch oder gerade wenn alliierte (wie auch deutsche) Flugzeuge über Schweizer Gebiet von der Schweizer Luftwaffe abgeschossen wurden.

Auch die viel grösseren Waffenlieferungen an Deutschland und Italien stellte er in den Zusammenhang mit der Notlage des Landes:

Die Felsplatte (Kanton Solothurn)

„Von allen Neutralen hat die Schweiz das grösste Recht, sich auszuzeichnen. Sie ist die einzige internationale Kraft, die die schrecklich zerrissenen Nationen und uns verbindet. Was spielt es für eine Rolle, ob sie uns die gewünschten Handelsvorteile verschaffen konnte oder ob sie den Deutschen zu viele Vorteile verschafft hat, um sich selbst am Leben zu erhalten? Sie war ein demokratischer Staat, der in Selbstverteidigung zwischen seinen Bergen für die Freiheit eintrat und gedanklich weitgehend auf unserer Seite stand“ (Winston Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Band VI, London, 1954).

Universität von Zürich

Zürich 1946

Seine Rede in Zürich am 19. September 1946 ist für die Schweiz immer noch aktuell. Churchill war ein grosser Befürworter einer Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern, ins besondere zwischen Frankreich und Deutschland:

Es geht darum, die europäische Familie wiederherzustellen, oder so viel davon, wie wir können, und ihr eine Struktur zu geben. Wir alle müssen uns von den Schrecken der Vergangenheit abwenden. Wir müssen den Blick in die Zukunft richten, „ein gesegneter Akt des Vergessens“.

Der erste Schritt zur Neugründung der europäischen Familie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Wir müssen die europäische Familie in einer regionalen Struktur wiederherstellen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa (United States of Europe) nennen könnte. Der erste Schritt ist die Gründung eines Europarates (European Council). Grossbritannien, der britische Commonwealth of Nations, Amerika und Sowjetrussland müssen die Freunde und Förderer sein“.

In seiner Veröffentlichung aus dem Jahr 1954 (Winston Churchill, The Second World War, Volume VI, London, 1954) hat er seine Ideen in den Vordergrund gestellt. Er wolle keinen föderalen europäischen Staat, sondern einen nicht näher bezeichneten „Vereinigten Staaten von Europa“ (Ich werde nicht versuchen, ein detailliertes Programm für Hunderte von Millionen von Menschen zu erstellen).

Er sah diese Vereinigten Staaten von Europa als einen europäischen Regionalrat (European Regional Council) souveräner Nationen. Darüber hinaus sah er den Regionalen Rat des Pazifiks (mit Russland, Asien und Ozeanien), den Regionalen Rat der Amerikas, den Britischen Commonwealth und möglicherweise weitere (zukünftige) Regionale Räte vor. Der Weltrat (World Council) war das oberste Gremium mit Delegierten aus diesen Regionalräten.

Churchill schlug vor, dass die europäischen Länder aus praktischen Gründen Vertreter in den Europäischen Regionalrat entsenden sollten, und zwar nach Regionen geordnet, z. B. Benelux (Belgien, Niederlande, Luxemburg), slawische Länder und skandinavische Länder.

Zur Schweiz bemerkte er: „Herr Wallace fragte mich auch, ob ich die Möglichkeit eines Zusammenschlusses der Schweiz mit Frankreich in Betracht ziehe, aber ich sagte, die Schweiz sei ein Sonderfall“. (Winston Churchill, The Second World War, Band VI, London, 1954, S. 718).

Seiner Ansicht nach musste sich das Vereinigte Königreich ohnehin für die Meere, den freien Markt und den Handel entscheiden und nicht Teil dieser europäischen Strukturen sein, was jedoch eine Zusammenarbeit nicht ausschloss. Schliesslich war das Vereinigte Königreich seiner Ansicht nach bereits ein Commonwealth.

Die Europäische Union und die Schweiz

Die weitere Erklärung von 1954 macht deutlich, dass Churchill kein föderales Europa wollte. Wahrscheinlich würde er die Funktionsweise der derzeitigen Europäischen Union kritisieren und gleichzeitig die Notwendigkeit betonen.

Wie würde Churchill die derzeitigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz beurteilen? Er war realistisch und pragmatisch genug, um die schwierige Lage des Landes zu erkennen, umgeben von der Europäischen Union.

Andererseits war er aber auch realistisch genug, um die Vorteile, die positiven Entwicklungen und die Notwendigkeit einer (wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen, politischen und politischen) europäischen Zusammenarbeit zu erkennen.

Er würde jedoch auch die demokratischen, bürokratischen und politischen Mängel und (unrealistischen) Ambitionen der derzeitigen Europäischen Union aufzeigen, ohne in Populismus zu verfallen. In der Tat ähnelt diese Europäische Union manchmal den Vereinten Nationen auf europäischer Ebene oder einer NGO. Und das ist kein Kompliment.

Danziger Werft, Denkmal für die gefallenen Arbeiter 1970

Schlussfolgerung

Wir werden es nie erfahren. Vielleicht würde er empfehlen, die direkte Demokratie, die Subsidiarität, den Föderalismus, die Dezentralisierung, die Innovation und die Schweizer Währung mit den notwendigen Kompromissen zu erhalten. Immerhin ist die Europäische Union eine gute Initiative, nur in einigen Bereichen „aus dem Ruder gelaufen“ und offenbar nicht reformierbar.

Über das heutige Russland wäre er so deutlich, wie er es über seinen Vorgänger und aggressiven Verbündeten des deutschen Diktators bis zum 22. Juni 1941 war:

(Winston Churchill, The Second World War, Band III, London, 1950).

Die russische Invasion vom 22. Februar 2022 ist somit eine Fortsetzung der Aggression der Sowjetunion gegen Polen (17. September 1939), Finnland (November 1939) und die baltischen Staaten (1940).

Krakau, Katyn Denkmal

Im Mai 1940 hat Churchill durch seine Entscheidungen die europäische Zivilisation gerettet. Dass dieser Kampf mit dem kommunistischen Albtraum in Osteuropa endete, war für Churchill eine bittere Pille:

From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic, an iron curtain has descended across the continent. Behind that line lie all the capitals of the ancient states of central and eastern Europe. This is certainly not the liberated Europe we fought to build up„, Fulton, am 5. März 1946).

Danziger Werft, Niederschlagung des Solidarność-Aufstandes, 1981

Militärische Fakten, kommunistischer Terror und ein unerfahrener, neuer US-Präsident (Harry Truman, 1882-1972) und britischer Premierminister (Clement Attlee, 1883-1967) besiegelten das Schicksal der osteuropäischen Länder, insbesondere Polens und der ehemaligen Tschechoslowakei („die Schweiz Mitteleuropas“ bis 1938).

Mit seinem Respekt für andere politische Ansichten, Debatten, parlamentarische Diskussionen und Demokratie hatte er jedenfalls keinen Respekt für Lord Haw-Haw (1906-1946) oder ähnliche aktuelle Persönlichkeiten.

(Bron: Werner Vogt, Winston Churchill und die Schweiz, Zürich 2015; The Churchill Foundation)

Korrektorin: Giuanna Egger-Maissen