Gersau, Rathaus. Photo/Bild: TES.

Das Dorf Gersau, die kleinste Republik Europas

In ihrer jahrhundertelangen Entwicklung zum Nationalstaat wuchs die Schweiz auf heute 26 Kantone. Dabei hat jeder Kanton seine eigene Geschichte. Der Kanton Graubünden zum Beispiel ist aus einem jahrhundertealten Bündnis von drei Regionen hervorgegangen, nämlich dem Gotteshausbund, dem Grauen oder Oberen Bund und dem Zehngerichtebund. Fast drei Jahrhunderte später (1798-1815) haben sich diese Bündnisse im Jahr 1524 zum uns heute bekannten Graubünden vereint.

Das Dorf Gersau

Noch ungewöhnlicher ist jedoch die Geschichte des am Vierwaldstättersee gelegenen Dorfes Gersau. Jahrhundertelang hatte dieses Dorf den Status der kleinsten Republik Europas und war selbst in der Schweiz ein einzigartiger Fall.

Gersau liegt am Südhang der Rigi-Scheidegg, zwischen den Bergen Gersauerstock im Westen und Hochfluh und Zilistock im Osten. Jahrhundertelang war das Dorf nur vom Wasser aus zugänglich. Diese Lage bot ihm Schutz vor den umliegenden Orten (Kantonen) und den Herrschern des Hauses Habsburg.

Die Geschichte begann 1064, als Gersau erstmals in Dokumenten des Klosters Muri erwähnt wurde. Das Dorf befand sich damals noch im Besitz der Grafen von Lenzburg. Diese Familie starb 1173 aus, woraufhin die Grafen von Habsburg Eigentümer wurden. In Luzern wurde das Dorf jedoch an die Dynastie von Freienbach verpfändet.

1359

Das Jahr 1359 war für Gersau ein wichtiges Jahr: Am 31. August dieses Jahres verbündete sich Gersau mit den vier Waldstätten Uri, Schwyz, Unterwalden und Luzern, die bereits damals eine Eidgenossenschaft oder einen (lockeren) Bund bildeten. Diese Vereinbarung wird im Bundesbriefmuseum in Schwyz aufbewahrt.

In diesem Bündnis war Gersau, ein Dorf mit nur 500 Einwohnern, 1386 im Krieg gegen Habsburg beteiligt. Die Schlacht bei Sempach war ein Sieg für die Eidgenossen. Auch Gersau nahm teil, seine Soldaten konnten sogar das Banner der Grafen von Hohenzollern erobern!

Die Republik Gersau

1390 kaufte Gersau das Pfand von Von Freienbach ab und wurde unabhängig, allerdings im Verbund mit Luzern, Uri, Schwyz und Unterwalden. Gersau hatte von nun an seine eigene Verwaltung und Gerichts- und Steuerhoheit. Das Dokument Kaiser Sigmunds vom 31. Oktober 1433 bestätigte diesen Status.

Der Kaiser bestätigte die (faktische) Unabhängigkeit von Gersau: die Reichsunmittelbarkeit innerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Das Dorf mit rund 500 Einwohnern hatte die gleichen Privilegien, Freiheiten und Rechte wie die Städte Bern, Zürich, Basel oder Luzern. Das grosse Rathaus symbolisiert diesen Status noch heute.

Männliche Bürger, die älter als 14 Jahre waren, wählten die Regierung. Diese bestand aus dem Landammann, seinem Stellvertreter (dem Statthalter) und sieben Ratsmitgliedern.

Alle zwei Jahre fanden Neuwahlen statt. Die Ratsmitglieder erfüllten verschiedene Aufgaben der öffentlichen Verwaltung und Verteidigung und waren gleichzeitig Gesetzgeber. Ausserdem gab es eine eigene Justiz, in der der Landammann als oberste Justizbehörde fungierte.

Auch die Kirche war sehr aktiv und baute mehrere Kirchen und mindestens drei Kapellen. Gersau blieb auch nach der Reformation katholisch (wie Luzern, Uri, Schwyz und Unterwalden).

Wirtschaftlich unterschied sich Gersau bis 1730 nicht von anderen Dörfern. Erst nach 1730 entwickelte sich die Seidenindustrie rasant, und die Bevölkerung verdoppelte sich um 1800 auf 1‘000 Personen.

Gersau hatte nie den Status eines Kantons in der Eidgenossenschaft, sondern war bei der Tagsatzung durch Diplomaten vertreten. Diese Situation sollte sich bis zur französischen Invasion im Jahr 1798 fortsetzen, als Gersau auch Truppen gegen die französischen Invasoren (60 Soldaten) zur Verfügung stellte.

Es nützte jedoch nichts, im Mai 1798 endete die Unabhängigkeit Gersaus mit der Helvetischen Republik (1798-1803). Aufgrund der Mediationsakte von 1803, dem neuen Bund von 19 Kantonen (unter französischer Kontrolle), fusionierte Gersau als Bezirk mit dem Kanton Schwyz.

Der Bezirk Gersau

Nach dem Abzug der Franzosen im Jahr 1813 änderte sich diese Situation trotz der diplomatischen Bemühungen Gersaus nicht. Der Bund der 22 Kantone anerkannte 1815 Gersau nicht als eigenständige Republik oder Kanton, sondern als Bezirk des Kantons Schwyz.

Zwei weitere Jahre juristischer und diplomatischer Auseinandersetzung zwischen Gersau, Schwyz und dem Bund der 22 Kantone folgten. Doch am 27. Dezember 1815 stimmten die Gersauer Bürger dem neuen Status als Bezirk Schwyzs und dem Ende von vier Jahrhunderten Republik Gersau zu.

(Quelle: A. Müller, Gersau, Unikum in der Schweizer Geschichte, Baden 2013)