Der Röstigraben und die französischsprachige und deutschsprachige Schweiz
15 Oktober 2020
Die 26 Kantone der Schweiz haben sich schon immer durch religiöse, sprachliche und wirtschaftliche Eigenheiten unterschieden. Nach 1848 (und nach dem Sonderbundskrieg von 1847) ist Religion jedoch kein Gegenstand seriöser politischer Auseinandersetzungen mehr.
Die Sprachgrenzen sind aber eine Trennlinie, vor allem zwischen der Romandie (sechs (vorwiegend) französischsprachige Westschweizer Kantone) und den (vorwiegend) deutschsprachigen Kantonen. Der Erste Weltkrieg wurde zu einer besonderen Zeit der Spannungen zwischen diesen beiden Regionen.
Es gab verschiedene Gründe dafür wie zum Beispiel die Ernennung des deutschsprachigen Generals Ulrich Wille (1848-1925) durch das Parlament sowie verschiedene Spionage-Angelegenheiten.
Die Romandie sympathisierte vor allem mit der Entente (Frankreich, England, Russland, Belgien), die Deutschschweiz stand auf der Seite von Deutschland und Österreich-Ungarn. Der „Graben“ war geboren.
Erst später wurde der Röstigraben zum Begriff. Die Saane (Sarine) bei Freiburg (Fribourg) ist oft die (symbolische und teilweise geografische) Trennlinie. Der deutschsprachige Schriftsteller Carl Spitteler (1845-1925) gehörte 1914 zu den beruhigenden Stimmen. Auch aus der Romandie kamen versöhnliche Töne. Das ist einer der Gründe, warum es nicht zu einem Bruch kam.
Doch der Generalstreik vom November 1918, geboren aus Unzufriedenheit, Armut und dem Einfluss von Revolutionen in anderen Ländern, brachte den französisch- und deutschsprachigen Eliten die Versöhnung.
So wurden beispielsweise französischsprachige Soldaten aus dem Kanton Waadt im deutschsprachigen Grenchen (Kanton Solothurn) eingesetzt, um den Streik zu brechen. Als Zeichen der Dankbarkeit gewährte die Stadt den Amis Vaudois eine grosszügige Prämie.
Der Röstigraben war jedoch nicht verschwunden. Dies wurde mit dem Beitritt der Schweiz zum Völkerbund deutlich.
Die deutschsprachigen Kantone und Bürger waren weit weniger begeistert von der Idee als die Romandie. Die Ablehnung des EWR-Beitritts 1992 verlief ähnlich, d.h. es gab mehr Nein-Stimmen in der Deutschschweiz.
In der zweiten Volksabstimmung 2001 sprachen sich die französischsprachigen Bürgerinnen und Bürger ebenfalls gegen die EU aus, jedoch mit einem geringeren prozentualen Stimmenanteil. Auch bei der Abstimmung zum UNO-Beitritt im Jahr 2002 wiederholte sich das Muster.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs waren sich beide Regionen jedoch in ihrer Unterstützung für die Alliierten einig. Dazu trug sicherlich auch die Ernennung des französischsprachigen Generals Henri Guisan (1874-1960) bei.
Heute verlaufen die politischen Trennlinien nicht mehr so sehr entlang des Röstigrabens, sondern vielmehr zwischen ländlichen und städtischen Gebieten beider Regionen.
Die verschiedenen Sprachregionen sind trotz ihrer Eigenheiten alle Teil der Schweiz. Übrigens sind auch die deutsch- und französischsprachigen Kantone keine Einheit. Darauf deuten schon die vielen unterschiedlichen schweizerdeutschen Dialekte hin. Die Sprache als Ausdrucksmittel und Medium bleibt ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal, führt aber nicht zu einer Trennung.
Im Übrigen wird Rösti heute auch in der Romandie gerne gegessen.
Quelle: José Ribeaud, La Suisse plurilingue se délingue, Neuchâtel, 2010.
Korrektur: Eva Maria Fahrni