Titelblad Duitse versie Grondwet van 12 september 1848. Bron: www,parlement.ch, origineel in Schweizerisches Bundesarchiv.

12. September 1848

Die Eidgenossenschaft wurde am 12. September 1848 ins Leben gerufen. An diesem Tag genehmigte die Tagsatzung den Text, nachdem die Kantone ihn mit einer Mehrheit von 15 ½ Kantonen gegen 6 ½ angenommen hatten.

Von diesen 6 ½ Gegnern (Zug, Wallis, Uri, Tessin, Schwyz, Appenzell Innerrhoden (1/2), Nidwalden (1/2) und Obwalden (1/2)) waren auch 3 ½ bereit, sich der Mehrheit anzuschliessen. Es standen also 19 Ja-Stimmen 3 Nein-Stimmen gegenüber.

Die meisten Nein-Stimmen gehörten dem katholischen Sonderbund an, der 1847 in einem kurzen Krieg (3.-27. November) von den Regierungstruppen unter General Guillaume Henri Dufour (1787-1875) besiegt worden war. Luzern war ebenfalls Mitglied, aber alle Nichtwähler zählten als Ja-Stimmen; in Freiburg entschied der Grosse Rat des Kantons.

Im mehrheitlich protestantischen Kanton Graubünden entschieden die Komitialstimmen. Die Landsgemeinde entschied in den Kantonen Uri, Obwalden, Nidwalden, Glarus (katholisch und evangelisch), Appenzell Ausserrhoden (evangelisch) und Appenzell Innerrhoden (katholisch).

In den übrigen 16 Kantonen, darunter die beiden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, wurde das Referendum ergriffen. Die Zahl der gültigen Stimmen in allen Kantonen betrug 199.904, darunter 54.320 (27,2 %) Nein-Stimmen.

Zudem akzeptierte Nidwalden das Ergebnis nicht und wurde durch einen Einmarsch von Bundestruppen gezwungen, das Ergebnis zu akzeptieren. Der Kanton verlor das Gebiet der Gemeinde und des Klosters Engelberg, die an den Kanton Obwalden abgetreten wurden.

Die Verfassung von 1848

Diese Verfassung war ein genialer Entwurf zur richtigen Zeit am richtigen Ort in einem Land mit verschiedenen Religionen, Sprachen und souveränen Kantonen.

Die wesentlichen Grundlagen waren der föderalistische Aufbau und die verfassungsmässige Gleichstellung aller Kantone im Ständerat, die Dezentralisierung, die direkte Demokratie, das Milizsystem und die Mitwirkung und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger auf den politischen Ebenen.

Im Jahr 1875 war die Schweiz eines der modernsten Länder Europas und wurde zu Recht als Laboratorium des Fortschritts bezeichnet.

Die Schweizerische Eidgenossenschaft stützte sich auf jahrhundertealte politische, wirtschaftliche, kulturelle und sprachliche Beziehungen,  Erfahrungen und Systeme. Diese Eidgenossenschaft schuf die Voraussetzungen für die Modernisierung und die industrielle Revolution à la Suisse.

Die Bundesverfassung von 1848 war ein gut durchdachtes politisches System, das auf dieser Basis und auf jahrhundertealten politischen Erfahrungen, auf Handel und Austausch beruhte.

Mythen

Es ist nicht wichtig, ob Wilhelm Tell existiert hat oder nicht oder ob die lange Entstehungsgeschichte der heutigen Eidgenossenschaft 1291, 1351, 1501, 1798 oder 1848 angefangen hat.

Tatsache ist, dass es bereits im vierzehnten Jahrhundert einzigartige politische Systeme gab und dass die Rolle der grossen Dynastien im fünfzehnten Jahrhundert beendet war.

Die Eidgenossen waren unabhängige Kantone, die sich trotz aller Unterschiede in einer losen Konföderation zusammenschlossen und zusammenarbeiteten. Diese Konföderation hat überlebt. Das ist kein Mythos, sondern eine Tatsache.

Es ist jedoch ein Mythos, dass die Schweiz das ärmste Land Europas war und ihre Existenzberechtigung allein aus dem lukrativen Söldnerhandel und dem Schutz des französischen Königs bezog.

Der überwiegende Teil der Schweiz war arm, aber das Bild unterscheidet sich nicht grundlegend von England oder beispielsweise dem Goldenen Zeitalter in den Niederlanden, wo ausserhalb des kleinen Kreises der wohlhabenden Kaufleute und Bürger bittere Armut herrschte.

Wer Dörfer wie Trogen, Schwyz, Glarus oder Altdorf in der Zentralschweiz besucht, dem fallen sofort die städtische Ausstrahlung und der Reichtum des 14. bis 18. Jahrhunderts auf.

Das Gleiche gilt zum Beispiel für die Städte Freiburg, Luzern, Bern, Zürich, Basel, Solothurn, Genf, St. Gallen oder Stein am Rhein. Handel, Industrie und Innovation waren schon immer Markenzeichen des Landes.

Das französische Königreich hätte die Expansion des Herzogtums Burgund, der militärischen, politischen und kulturellen Supermacht des fünfzehnten Jahrhunderts, vielleicht nicht überlebt.

Der Herzog von Burgund wurde jedoch von den Eidgenossen (1474-1477) besiegt. Danach brauchte der französische König die Eidgenossen in seinem Kampf mit Habsburg ebenso sehr, wie umgekehrt.

Wohlstand profitiert immer von freiem Handel. Das war das Konzept der Hanse und der Handelsverträge, z.B. mit dem Königreich Frankreich bis 1798. Wirtschaftliche Verflechtungen gab es auf dem europäischen Kontinent schon immer; schon die Römer trieben Handel mit germanischen Stämmen, die Kelten mit den Griechen.

Die Europäische Union wurde 1957 als Wirtschaftsorganisation gegründet, die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Sie hat immer recht gut funktioniert.

Mit der Einführung der Währungsunion 1991 und der viel zu schnellen Erweiterung 2004 ohne Reform der EU-Strukturen ging es schief. Die Politiker*innen haben das Momentum für grundlegende Reformen mit einer begrenzten Anzahl von Ländern verpasst.

Souveränität

Es gibt auch den Mythos, dass die wahre Souveränität heute mit der Europäischen Union geteilt wird: („La souverainité absolue est une notion dépassée, elle se comprend aujourd’hui comme de la compétence de prendre part à une décision commune, à excercer une responsabilité partagée, ce qui correspond à la tradition suisse“ (Prof. A. Holenstein, Le Temps 13 September 2021).

Die Funktionsweise der Europäischen Zentralbank zeigt, zum Beispiel, dass die Schuldner die Politik bestimmen; gute Politik wird systematisch abgewählt. Es gibt weitere Beispiele, die in dieselbe Richtung weisen.

Der EU fehlt es vorübergehend an (direkter) Demokratie, Föderalismus, Dezentralisierung, trias politica und Subsidiarität, geschweige denn an einem historisch und organisch gewachsenem politischen und administrativen System.

Schlussfolgerung 

Die Verfassung vom 12. September 1848 hat den Erfolg der Schweiz ermöglicht. Die „Verfassung“ und die Strukturen der Europäischen Union garantieren nicht denselben Erfolg. Im Gegenteil, mit künftigen Erweiterungen wird das demokratische System immer brüchiger werden.

All dies schmälert nicht die Nützlichkeit, den Wert und die Bedeutung der Europäischen Union, die unersetzlich ist. Sie ist jedoch keine heilige Reliquie, und sie hat ihre grundlegenden Schwächen. Diese Schwächen sollten ohne Schwarzmalerei und ohne Verurteilung der Kritiker*innen diskutiert werden.

Der Kanton Glarus, zum Beispiel, ist zu grundlegenden Reformen und fortschrittlichen Entscheiden fähig. Die Landsgemeinde hat sich ihrer jahrhundertealten Rechte und Aufgaben entledigt. Sie wählte seit Jahrhunderten die Regierung des Kantons.

Die Regierung wird heute in geheimer Abstimmung gewählt. Die Landsgemeinde hat 2006 die Zahl der Gemeinden von 25 auf 3 reduziert. (In anderen Ländern dauert dieser Prozess, wenn überhaupt erfolgreich, Generationen.)

Sie hat im 16. und 17. Jahrhundert beschlossen, beide Religionen zuzulassen, die Landsgemeinde hat 2007 für das Wahlrecht ab sechzehn Jahren gestimmt (das ist nicht unbedingt eine weise Entscheidung, zeigt aber den fortschrittlichen Charakter der Landsgemeinde) und die Landsgemeinde hat am 5. September 2021 strenge CO2-Regeln angenommen.

Die Kraft und Weisheit der Dezentralisierung, des Föderalismus und der direkten Demokratie.

(Quelle: U. Häfelin, W. Haller, H. Keller, D. Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Basel 2020; www.parlament.ch).

Korrektorin: Melinda Fechner