Castelmur und die Zuckerbäcker
14 September 2022
Der Palazzo Castelmur in Coltura bei Stampa befindet sich im Bergell (Bregaglia) im Kanton Graubünden. Bereits zur Römerzeit und bis zum 19. Jahrhundert war das Bergell ein wichtiger Verbindungs- und Transitweg. Es ist ein peripheres Gebiet. Wichtige Zentren wie Mailand, Zürich, Venedig, Chur sind nicht weit entfernt.
Der Kanton Graubünden war während Jahrhunderten eine unabhängige Republik, die Republik der Drei Bünde. Erst 1803 wurde sie Mitglied der Eidgenossenschaft (die Mediationsakte von 1803). Von 1512 bis 1798 (französische Invasion und Gründung der Helvetischen Republik 1798-1803) besass die Republik der Drei Bünde Untertanengebiete die jetzt zu Italien gehören: Bormio, das Veltin und Chiavenna.
Quelle: Gian Andrea Walther, David Wille, Palazzo Castelmur, Stampa 2015
Die Dauerausstellung im Palazzo zeigt die Bünder Auswanderungsgeschichte von Zuckerbäckern.Die Anlage des Palazzo in diesem kleinen Dorf legt Zeugnis ab von einer erfolgreichen Emigration und Remigration.
George Kuhnt, Konditorei Barth & Cloetta, Breslau, c. 1854. Ausstellung ‚Die Bünder Auswanderungsgeschichte von Zuckerbäckern‘. Foto: TES.
Das Gebäude weist verschiedene Stile auf, da es sich aus zwei Bauten zusammensetzt, die im Abstand von cirka 130 Jahren erstellt wurden. Auftraggeber des ersten Baus ist Giovanni Redolfi (1658-1742).
Sein Patrizierhaus stammt aus dem Jahr 1723. Die Redolfi arbeiten am Ende des 16. Jahrhunderts als Zuckerbäcker in Venedig. Im 17. Jahrhundert sind sie Händler und Oberhaupt der Zuckerbäckerzunft (scalateri). Dank der florierenden Geschäfte in Venedig kann Giovanni Redolfi 1723 das Patrizierhaus in Coltura erbauen lassen.
Bauherr der Erweiterung im lombardisch-venezianischen Stil ist Giovanni de Castelmur (1800–1871). Die Verbindung von Alt und Neu und die Neuausstattung der Gesamtanlage sind das Werk verschiedener Mailänder Spezialisten sowie Hand- und Kunsthandwerker aus der Lombardei.
Die Ausstattung der Innenräume ist jedoch viel glanzvoller. Die Wohnräume der ehemaligen Casa Redolfi sind mit Ausnahme eines Raumes mit lackiertem Täfer und mit Tapeten versehen.
Im neuen Anbau kann man den Speisesaal, die Bibliothek, den Salon, die in Rot und Grün tapezierten Schlafzimmer und die vier kleinen Turmzimmer bewundern. Wände und Decken der repräsentativsten Räume sind mit Wandmalereien verziert; dabei stechen die Trompe-l’Oeil-Malereien am meisten ins Auge.
Diese Erweiterung des grossen Patrizierhauses von Redolfi und die mit Türmen versehenen Fassade sollten einen prunkvolleren Charakter schaffen, im Stil eines Schlosses. Die Familie Castelmur, namentlich erwähnt seit dem 12. Jahrhundert, gilt als eine der einflussreichsten Familien im Bergell und im Kanton Graubünden.
Giovanni de Castelmur beabsichtigte, der Familie wieder glanz zu verleihen. Giovanni wächst auf in Marseille in einer Familie, die sich, wie viele andere Bündner Familien, der Zuckerbäckerei widmet. Bereits mit dreissig Jahren ist er sehr wohlhabend und beschliesst, wieder ins Bergell zu ziehen und das Patrizierhaus zu erweiteren.
Der Bau wurde ein Palast oder Schloss der gemalten Illusionen mit einer Fassade im Stil der lombardisch-venezianischen Gotik. Die Untersicht des Daches wurde mit gotischem Masswerk bemalt. Der Grosse Saal offenbart Rokoko-Fantasie aus dem Jahr 1853, in bester Tradition der österreichischen Habsburg-Monarchie. Das Gewölbe ist durchbrochen von Fenstern mit gefärbten Glas.
Der Palast zeigt weiter viele Gemälde, (sehr seltsame) Ansichten, Graphiken, Tapeten, Politur und ein komplettes aristokratisches Interieur des 18. und 19. Jahrhunderts.
Nossa Dona
Mit dem Übertritt des Bergells zum reformierten Glauben um 1530 wurde die Kirche Nossa Dona (Santa Maria) aufgegeben. Die alte Festung war im Mittelalter auch Zollstation, gerät später aber in Vergessenheit. Die Festung kehrt im 19. Jahrhundert in den Besitz der Castelmur zurück. Die Kirche ist heute das Mausoleum der Familie der Castelmur.
(Quelle: Gian Andrea Walther, David Wille, Palazzo Castelmur, Stampa 2015)
Korrektorin: Eva Maria Fahrni
Coltura, Palazzo Castelmur und Nossa Dona: Foto: TES
Chur, Rhätisches Museum. Foto: TES