Franz Hegi (1774-1850), Die Landsgemeinde Trogen, Kanton Appenzell Ausserrhoden, 24. April 1814. Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden. Foto/Photo: Wikipedia.

Die Schweiz – ein europäischer Mikrokosmos?

Ein Blick zurück: Die heutige Schweiz ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit war von verflochtenen politischen Bündnissen, direktem Austausch und engen Kontakten von und zwischen den Kantonen geprägt.

Die 26 Kantone. Quelle: Les 26 cantons suisses. Foto: www.jeretiens.net

Die Kantone

Aus diesen einzelnen Kantonen und ihren Partikularinteressen eine Nation zu formen? Eine Herausforderung. Nach dem Wiener Kongress (1814–1815) schien es unmöglich, diese souveränen Republiken mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Religionen, Kulturen und (wirtschaftlichen und territorialen) Interessen in einer Föderation mit einer nationalen Währung, einer Regierung, einem Parlament, einer Armee oder gar einer Flagge oder einer Nationalhymne zu vereinen.

34 Jahre und einen Bürgerkrieg später aber gelang das Unwahrscheinliche: Nach dem Sonderbundskrieg (1847) gaben sich 25 Kantone im Folgejahr eine Konstitution. Mit der gemeinsam getragenen Verfassung war die Confoederatio Helvetica, die Schweizerische Eidgenossenschaft, gegründet.

Dieser Zusammenschluss der Kantone war die logische Konsequenz einer Einheit in Verschiedenheit. Heute präsentiert sich die Schweiz sogar als Forschungsfeld für ein integratives Erfolgsmodell der europäischen Staaten. Für manche ist sie sogar ein (demokratisches) Vorbild, sozusagen ein europäischer Mikrokosmos. Andere sind der Meinung, dass die Schweiz das Maximum der europäischen Integration darstellt.

M. Valéry Giscard d’Estaing (2008) und Präsident François Hollande (2016). Pregny Chambésy, Musée des Suisses dans le monde. Foto: TES 

Sollte anstelle dem Beitritt der Schweiz in die EU, nicht eher die EU das System der Schweizerischen Föderation in Betracht ziehen?  „In der Schweiz ist der europäische Traum Wirklichkeit geworden“.

Vevey, Musée de la Confrérie des Vignerons, Les Cent Suisses. Foto: TES

Die Gründung

Die Geschichte der Schweiz ist vor allem eine jahrhundertelange Kontinuität und eine bewusste Entscheidung der Kantone und Bürger für ein politisches System. Das unterscheidet die Schweiz von anderen Regionen in Europa, die ebenfalls lange zusammengearbeitet haben.

Die Hanse (vom 12. bis 16. Jahrhundert), der Rheinische Städtebund (1254 -1257, 1381-1389), der Schmalkaldische Bund (1530-1546), der Schwäbische Städtebund (1331-1381), der Schwäbische Bund (1488-1534) und der Zehnstädtebund oder Dekapolis (1354-1679) sind nur einige Beispiele dieser regionalen Bündnisse.

Die ähnlichen Bündnisse des heutigen Kantons Graubünden: der Gotteshausbund (1367), der obere oder der Graue Bund (1424), daher der Name Graubünden, und der Zehngerichtebund (1436), gründeten 1524 die Freistaat der drei Bünde.

In der Konföderation von 1803 wird Graubünden ein Kanton. Das Wallis war von 1476 bis 1798 auch ein Bündnis, die Republik der Sieben Zehnden. Der Kanton Wallis wurde  1815 Mitglied der Konföderation. Kontinuität.

Grundsätzlich hätten die Dinge für die Schweiz auch anders laufen können, «wenn». Über die Jahrhunderte gab es viele überraschende Zufälle, Irrungen und Wirrungen, die hier im Einzelnen nicht berücksichtigt werden sollen.

Dass es die Schweiz gibt, ist jedoch kein Zufall – zu dicht war das Geflecht aus wechselseitigen Verträgen und Kontakte, das die einzelnen Kantone miteinander verband. Damals deutete jedoch noch nichts darauf hin, dass die Schweiz im Jahr 1848 als Nation gegründet werden würde.

Einheit in der Vielfalt, 1935. Nationales Museum Zürich. Foto: TES.

Die Eidgenossenschaft

Die ersten Kantone (zu Beginn auch «Orte» genannt) werden ab dem Spätmittelalter erwähnt, etwa in der Zeit vom dreizehnten bis zum fünfzehnten Jahrhundert. Diese Kantone waren vor dem Zusammenschluss im Jahr 1848 souveräne Republiken mit eigener Gerichtsbarkeit, Kultur, Armee, Währung, Flagge, Sprache/Dialekt, Gesetzgebung, Regierung, Aussenpolitik (einschliesslich Entscheidungen zum Krieg oder Frieden und zu den Verträgen mit anderen Staaten und Kantonen), einem eigenen Parlament und eigenen Botschaftern. Eine Einmischung einer föderalen Behörde oder eines (ausländischen) Herrschers gab es nicht.

Die Eidgenossenschaft von 1513 und ihre dreizehn Kantone (dieser Begriff stammt aus dem 16. Jahrhundert) überstanden jedoch die europäischen (Religions-)Kriege und Revolutionen bis zum Jahr 1798.

Nach dem offiziellen Ende des 30-jährigen Krieges im Jahr 1648 (Westfälischer Friede) wurde die Eidgenossenschaft von den anderen europäischen Staaten (de facto) als eigenständige Nation anerkannt.

In der Wahrnehmung der damaligen Grossmächte (vor allem der spanischen und österreichischen Habsburger, Schwedens, der Republik der Vereinigten Provinzien, Frankreichs und Englands) war diese Konföderation eine souveräne Einheit. Die Kantone hatten dies durch ihre Erfolge auf dem Schlachtfeld und durch ihre politische, wirtschaftliche und aussenpolitische Tätigkeit ab 1315 erreicht.

Die Kantone selbst? Sie sahen sich nicht als politische Einheit, und auch von einer nationalen Identität konnte keine Rede sein.

Die Tagsatzung. Nationales Museum Zürich. Foto: TES.

Tagsatzung – ein komplexes Mosaik

Die Tagsatzung war das einzige Gremium der Eidgenosenschaft. Die Tagsatzung der Kantonsvertreter entstand 1417 nach der Eroberung des Aargaus im Jahr 1415. Ihre Hauptaufgabe war die gemeinsame Verwaltung der eroberten Gebiete (Untertanengebiete) des Thurgaus (1460), der italienischen Gebiete um 1500 und der Waadt (1536).

In anderen Bereichen waren sich die dreizehn Kantone jedoch meist uneinig. Nachdem einige Kantone sich der Reformation angeschlossen hatten, wurden die Zusammenarbeit und die Aussenpolitik noch komplizierter. Die Eidgenossenschaft war also weder katholisch noch protestantisch, sondern ein Bündnis, das sich aus katholischen und protestantischen Kantonen zusammensetzte.

Abgesehen von kleine militärischen Konflikten (die beiden Kappelerkriege von 1529 und 1531, die Bündner Wirren von 1618 bis 1639, der Bauernkrieg von 1653 und die beiden Villmergerkriege von 1656 und 1712), lösten die Kantone ihre religiösen und wirtschaftlichen Konflikte jedoch durch Konsultationen, wobei sie stets das Machbare und den Kompromiss suchten.

Napoleon und die Schweiz

Die französische Besatzung und ihre konstitutionelle Konzepte – gemeint sind die Helvetische Republik von 1798 bis 1803 und die Konföderation von 1803 bis 1813 – setzten wichtige Veränderungen in Gang. Nach der Niederlage Napoleons bestand die neue Eidgenossenschaft von 1815 wie zuvor aus souveränen Kantonen (fünfundzwanzig, darunter sechs Halbkantone) ohne effektive nationale Organe.

Bild:Franzoseneinfall in Nidwalden, www.franzoseneinfall.ch.

Aber die Uhr konnte nicht zurückgedreht werden: Die Verfassung von 1848 ebnete den Weg für die moderne Schweiz. Eine Kombination aus Föderalismus, allgemeinem Wahlrecht für die Bürger (Bürgerinnen waren ausgenommen), einem ausgewogenen System der Machtteilung zwischen Bundesrat und Parlament (Nationalrat und Ständerat) sowie einer wichtigen Rolle der Kantone und Bürger. Bereits 1848 hatten die Bürger und Kantone das letzte Wort bei der Ausarbeitung der Verfassung.

Nach 1848 waren die Kantone das Labor für die Einführung der nationalen direkten Demokratie mit dem Referendum (1874) und der Volksinitiative (1891) – mit Erfolg. Die Einführung war eine politische Entscheidung der Bürger und Kantone. Sie stützten sich dabei auf die «Landsgemeinde» in acht Kantonen, die US-amerikanische Verfassung von 1786, die Errungenschaften der französischen Ära (1798–1813) und die Erfahrungen in den Kantonen (und Gemeinden).

Das Referendum, 1874. Nationales Landesmuseum Zürich. Foto: TES.

Die direkte Demokratie war von Anfang an das Schmiermittel einer Föderation von so unterschiedlichen Republiken und Interessen. Die Kantone und die Bürger vertrauten der föderalen Regierung und dem föderalen Gesetzgeber, und diese vertrauten den Kantonen und den Bürgern.

Willensnation

Die Schweiz ist also eine Willensnation mit einem politischen System, das in einem jahrhundertelangen Prozess von und für die Bürger*innen und ihre Kantone von unten (bottom-up) entstanden ist. Bis 1798 gab es in der Schweiz keine dominierende nationale Persönlichkeit oder Dynastie und keinen dominierenden Kanton, sondern nur grosse und kleine Kantone.

Bis 1848 gab es keine nationale Identität, sondern nur Solidarität mit den anderen Kantonen. Dieser Zusammenschluss war jedoch hauptsächlich pragmatisch und diente den Interessen der Kantone. Da passt es ins Bild, dass die neugegründete Schweiz bis 1889 auf ihre Nationalfahne und bis 1961 auf ihre offizielle Nationalhymne warten musste.

Bern, Haus der Kantone. Foto: TES.

Demokratie

Das Schweizer Modell ist keine gottgegebene Prädestination, sondern ein politischer Prozess. Ein wichtiger Aspekt des Schweizer Modells ist seine Anpassungsfähigkeit an sich verändernde gesellschaftliche, internationale und wirtschaftliche Entwicklungen.

Das Kompromissmodell und das so genannte «Konkordanzsystem» sind aus der ständigen Notwendigkeit entstanden, sich mit allen Beteiligten zu beraten. Daraus entstand 1959 auch die «Zauberformel» , die 1959 zustande gekommene parteipolitische Zusammensetzung des siebenköpfigen Schweizerischen Bundesrates.

Die föderalistische Struktur des politischen Systems und die grosse Macht der Kantone im Ständerat sowie die direkte Demokratie für die Bürger*innen und ihre Organisationen sind die Grundlage dafür.

Der Bundesrat, das Parlament, die Kantone, die Wirtschaftsverbände und andere gesellschaftliche Organisationen werden bereits in der vorparlamentarischen Phase in den Gesetzgebungsprozess einbezogen, denn das letzte Wort haben immer die Bürger*innen und die Kantone.

Bern, Bundeshaus. Foto: TES

Schlussfolgerung

Das politische System der Schweiz ist ein subtiles und ausgewogenes Produkt jahrhundertelanger Tradition und Zusammenarbeit zwischen und mit den Kantonen und den Bürgern und Bürgerinnen. Es ist kein Exportprodukt, aber es kann interessante Hinweise auf das (Un)Machbare und das (Un)Mögliche in dem viel grösseren und unendlich komplizierteren Projekt der Europäische Union geben.

Die Integration der Schweiz ist nicht perfekt. Es gibt einen «Röstigraben» zwischen den frankophonen und den deutschsprachigen Kantonen, die italienisch- und rätoromanischsprachigen fühlen sich nicht immer gehört, einen Stadt-Land-Graben, es gab eine späte (nationale) Einführung des Frauenstimmrechts (was übrigens nicht unbedingt nur etwas über die Schweizer Männer aussagt) und die Erlangung der Staatsbürgerschaft für Ausländer*innen, einschliesslich des Stimmrechts – ist keine leichte Aufgabe. Dies ist eine Kompetenz der Gemeinden und Kantone, die seit Jahrhunderten mit dem Bürgerrecht sparsam umgehen.

Die Covid-19-Pandemie und das Verhältnis zur Europäischen Union sind ebenfalls Anlass, die Machtverteilung zwischen Bund und Kantonen genauer zu betrachten. Das System ist jedoch reformierbar. Anpassungen und Verbesserungen erfolgen natürlich erst nach (langwierigen) Diskussionen und Konsultationen mit Kantonen und Bürgern*innen.

Das Schweizer Modell ist einzigartig und eine politische Entscheidung von und für die Bürger und ihre Kantone. Die Schweiz ist nicht nur die unangefochtene Weltmeisterin der Volksabstimmungen – diese direkte Demokratie ist kein Selbstzweck –, sondern sie ist in ein jahrhundertealtes System von Gremien auf kommunaler, kantonaler und seit dem 19. Jahrhundert auch auf nationaler Ebene eingebettet.

Das Schweizer Modell hat dem Land auch in schweren Krisenzeiten gute Dienste geleistet, so zum Beispiel im Bürgerkrieg von 1847, während der Polarisierung von 1914 bis 1918 und beim Referendum (1974) über die Gründung des neuen Kantons Jura im Jahr 1979. Die direkte Demokratie vereinfacht das politische Leben der eidgenössischen (und kantonalen wie kommunalen) Exekutive und Legislative nicht, und sie ist auch in der Schweiz Gegenstand von Reformdiskussionen.

Aber die Schweizer und Schweizerinnen wie auch die Kantone sind der Beweis für den Erfolg. Ein Gesetz oder eine Volksinitiative zur Abschaffung der direkten Demokratie ist noch nie zustande gekommen.

Literatur

Lindner, Wolf, Mueller, Sean (2017): Schweizerische Demokratie. Institutionen, Prozesse, Perspektiven, Bern. Vatter, Adrian (2020): Das politische System der Schweiz, Baden-Baden

Korrektorin: Anne Katrin Lombeck (www.satzbausatz.ch).